01.04.2022
Öffentliche Bücherschränke – Segen und Fluch zugleich
Konsalik, Simmel, Readers Digest, Winnetou I bis III, Carnegie: Sorge dich nicht, lebe! Ja, Sie vermuten richtig, ich stehe vor einem öffentlichen Bücherschrank. Warum das erwähnenswert ist? Der Bücherschrank ist bei mir gleich um die Ecke am Dorfplatz, und er ist nagelneu. Ein Bücherschrank, ein recht stattlicher obendrein, für die Öffentlichkeit freigegeben jetzt, im März 2022.
Ich fand die Idee mal gut, damals in den 1990ern oder auch noch in den Nuller-Jahren des 21. Jahrhunderts: Buch gelesen, ab in die öffentliche Bücherbox, anderes Buch dafür ausgeliehen. Viele Telefonzellen sind so der Verschrottung entgangen. Die waren ja schon an Bücher gewöhnt, nur wurden sie dann eben mit Konsaliks und Simmels gefüllt statt mit „Saarbrücken A-L“, „Saarbrücken M-Z“ und „Neunkirchen, Saarlouis, Merzig-Wadern und St. Wendel“.
In Deutschland gibt es 2.803 öffentliche Bücherschränke. Tendenz steigend. Der an unserem Dorfplatz-Gemeindehaus ist wahrscheinlich schon Nr. 2.804, und ich finde: Jetzt muss es mal gut sein. Brauchen wir 2022 tatsächlich noch neue Bücherschränke? „Oh ja“, antworten viele meiner Bekannten, „wo soll man denn sonst mit den alten Büchern hin?“ Meine spontane Reaktion darauf wäre: ins Altpapier! Aber ich hüte mich, das laut auszusprechen. Die Leute werfen ja alles weg, alles außer Bücher, da greift die instinktive Wegwerfhemmung: „Buch? Kannste doch nicht einfach entsorgen.“
Tatsächlich war der neue Bücherschrank am Marktplatz nach zwei Tagen proppenvoll und sieht genauso aus, wie der Bücherregalteil im Wohnzimmerschrank meiner Eltern in den späten 70ern.
Mein Vater war Mitglied im Bücherclub (weil Lesen bildet), vergaß aber regelmäßig, fristgerecht was aus dem Katalog zu bestellen. So kriegten wir alle drei Monate ein Pflichtexemplar: zum Beispiel einen Simmel oder Konsalik. Und da mein Vater nicht gern Geld verschwendete, nötigte er mich, den Kram zu lesen. „Nur für dich machen wir das doch, Junge“. So entwickelte ich frühzeitig autodidaktisch die wertvolle Kulturtechnik des Querlesens. Wenn mein Vater stichprobenartig nachfragte, konnte ich in drei Sätzen zusammenfassen, worum es in „Es muss nicht immer Kaviar sein“ geht – soll also keiner sagen, diese Bücherclub-Sache hätte nichts gebracht. Und manchmal nannte ich ihm die Seitenzahl der pikanten Stellen, von denen Oma nicht erfahren durfte, dass die vom Bücherclub mitgeliefert werden.
Auch die Eltern meiner Kumpels verpennten regelmäßig die Bestellfrist, sodass der Briefträger an manchen Stichtagen fünf bis acht Simmel oder Konsalik in unserer Straße ablieferte. So ein Stück bundesrepublikanische Geschichte wirfst du nicht einfach weg. Das Hochzeitsgeschenk von Tante Berta schon, aber den Simmel? Ich erkenne heute noch die wichtigsten Werke dieses Erfolgsautors in jedem beliebigen Bücherschrank aus zehn Metern Entfernung nur am Buchrücken. Damit sollte ich vielleicht bei „Wetten, dass ..?“ auftreten.
Mit „Readers Digest“, dem Vorverdauten für mäßig Lesehungrige, lief das ganz ähnlich, wobei sich die Exemplare speziell dieses Abos im Bücherschrank optisch besonders edel ausnahmen, zumindest in den 70ern. Und wegen der damaligen Buchclub-Abos stehen heute in allen 2.804 öffentlichen Bücherschränken Deutschlands die gleichen Bücher.
Die Bücherschränke sind eine wichtige Entsorgungseinrichtung für Lesestoff, der uns einmal wichtig war und bei dem es wehtun würde, ihn in die Papiertonne zu werfen. Stattdessen geht das so: „Schatz, haste gehört, bei uns am Marktplatz macht ein öffentlicher Bücherschrank auf.“ – „Na, dann hol schnell die Kiste mit der Konsalik- und der Carnegie-Sammlung aus dem Keller.“
Wenn du da nicht entschlossen handelst, gammelt die Bücherclub-Kiste weiter im Keller rum und der Simmel schimmelt – es sei denn, auch das Nachbardorf will im Trend bleiben und stellt Bücherschrank Nr. 2.805 auf. Noch 1.000 Bücherschränke, und alle jemals gedruckten Exemplare von „Sorge dich nicht, lebe!“ sind öffentlich zugänglich.
Mir persönlich wäre es lieber, ich bekäme eine schnelle W-Lan-Verbindung am Marktplatz und könnte da Online-Nachrichten lesen.
Das Schöne ist, dass ich in diesem Bücherschrank schon mal ein Buch von Ihnen gefunden habe! („Normal passiert da nichts“) Ich habe mich sogar gefragt, ob Sie es selbst reingestellt haben. Jedenfalls gehört es zu den Büchern, die ich auf jeden Fall behalte! 🙂
Liebe Isabelle Wagner,
soory, diese Mail ist mir im Juni total durch die Lappen gegangen – sorry! Hab den Beitrag gerade erst beim „Aufräumen“ entdeckt.
Nein, habe ich nicht selbst reingestellt, aber freue mich umso mehr, dass Sie das Buch behalten wollen.
Ganz herzliche Grüße
Frank Meyer