29.10.2021
Über heimische Küsten, Kommunikation und Krabbenpulmaschinen
Eigentlich wollte ich dieses Jahr auf die Malediven oder in die Karibik. Aber ich verbringe meinen Urlaub an der Wurster Küste. Sie wissen nicht, wo das ist? Dann machen Sie es wie ich: Kümmern Sie sich mitten in den Sommerferien erst zwei Tage vor der Abreise um eine Ferienwohnung. So kurzfristig gibt’s dann nur noch was zwischen Cux- und Bremerhaven. Dort befindet sich nämlich das Wurster Land, dessen feuchte Seite dort zu finden ist, wo die Weser ins Wattenmeer übergeht. Und ganz ehrlich, auf den Malediven hätte ich es nicht exotischer haben können.
Woran merkt man, dass man seinen eigenen, vertrauten Kulturkreis verlassen hat? Richtig: an Küche und Kommunikation. Die Eingeborenen an der Wurster Küste reden kein Wort mehr als notwendig – aber was sie sagen, sitzt. Und sie essen, was das Wattenmeer eben so hergibt. Die Wurster Küste ist wahrlich keine Leberknödel- oder Spießbraten-Region.
Im verträumten Fischernest Wremen liegen fünf bunt bemalte Krabbenkutter. Ich vermute zunächst, dass es sich um eine Art Freilichtmuseum handelt, erfahre aber: Die Kutter haben kurz zuvor ihren täglichen Fang Krabben eingebracht. Die frisch gefangenen Krabben kann man praktisch in Sichtweite der Kutter im Dorfladen kaufen. Genauer gesagt wäre der in Sichtweite, wenn zwischen Kutterhafen und Krabbenladen kein Deich wäre.
Ich beschließe, eine Portion Krabben zu probieren, betrete entsprechend motiviert den Wremer Fischladen und erlebe die Saloon-Situation. Die kennen Sie? Dann durften Sie, wie ich in den 70ern als Kind, schon bettfertig im Frotteeschlafanzug, nach dem Wort zum Sonntag noch den Samstagsabendwestern gucken, und kennen daher folgende Szene: Fremder betritt den Saloon, Klavier verstummt, Pokerrunde hält mitten im Spiel inne, Hände bewegen sich Richtung Colt und alle Blicke sagen: Jetzt kein falsches Wort, Fremder.
So ähnlich fühlt es sich an, wenn man den Wremer Fischladen betritt – nur, dass man auf die Frage „Wo kommst du her, Fremder?“ nicht mit „Aus Wyoming“ antwortet, sondern mit „Aus Wanne-Eickel“.
Die einheimische Kundschaft trägt tütenweise frisch Gefangenes aus dem Laden, also traue ich mich zu sagen: „250 Gramm Krabben, bitte.“ Die Frau hinter der Theke schaut mich an und schweigt länger, als ich das aus der linksrheinischen Alltagskommunikation gewohnt bin. Dann sagt sie: „Nee min Jong, du willst keine Krabben …“
Ich mag es eigentlich nicht, wenn mir jemand sagt, was ich will oder nicht will. Aber etwas in der Stimme der resoluten Krabben-Fachverkäuferin sagt mir: Da kommt noch was. Und tatsächlich: „Du willst keine Krabben, du willst Krabbenfleisch.“
Ach, da gibt es einen Unterschied? „Wann wollen Sie die Krabben denn essen?“ „Na, heute zum Abendessen, so um halb sieben.“ Die anderen Einheimischen im Laden lächeln mitleidig. „Siehste, jetzt is halb fünf. Wenn du selbst pulen willst, isst du heut keine Krabben mehr.“
Auf einem Veranstaltungsplakat sehe ich, dass vor Ort regelmäßig Krabben-Pulkurse für Süddeutsche angeboten werden, aber dafür ist es jetzt zu spät. Und zum Glück hat jemand aus dem Nachbardorf Spieka die Krabbenpulmaschine erfunden, sodass ich jetzt frisch gepultes Krabbenfleisch kaufen kann. Ein halbes Pfund gepulte Krabben kostet zwar ein Vielfaches der gleichen Menge mit Schale, dafür kriege ich aber von allen Anwesenden im Laden kostenlose Zubereitungsvorschläge, etwa: unbedingt auf Schwarzbrot; bloß nicht anbraten, sondern allenfalls sachte in Butter schwenken; passt gut zu Rührei; besser zu Bier als zu Wein.
Während also alle anderen mit einer Tüte vollständiger Krabben abziehen, gehe ich mit mundgerecht gepultem Krabbenfleisch aus dem Laden, und mit der Erkenntnis, dass man hier mit den Leuten reden muss, um als kulinarischer Novize den Fang des Tages nicht zu ruinieren. Und beim Abendessen stellt sich heraus: Ja, Wattenmeerkrabben sind der Kaviar der Wurster Küste